

Ein kleiner Hinweis aus dem Buch

english Version below
Die Entstehung Europas
1
Die Gabel und andere zweifelhafte Segnungen
Diese verdammten Morgenländer! Was für Gecken! So etepetete und arrogant bis in die Spitzen ihrer Stolen. Für wen hielt sich dieses Frauenzimmer eigentlich? Nur weil Domenico Selvo, der wahrscheinlich zum nächsten Dogen gewählt werden würde, sie als Braut auserkoren hatte. Gewiß, die höfischen Kreise in Konstantinopel, wo ihr Vater einen hohen Posten beklei-dete, waren berühmt für ihre Eleganz und hielten sehr auf Etikette. Aber mußte sie deswegen gleich die naturgebotene Höflichkeit verleugnen und auf ihren lächerlichen Moden beharren? Sie hatte doch tatsächlich die Frechheit besessen, sich beim Hochzeitsbankett zu weigern, mit den Fingern zu essen. Statt dessen hatte sie den Eunuchen, der um sie herumscharwenzelte (noch so eine Perversion, was, in Gottes Namen, würde als nächstes kommen?) angewiesen, ihr Essen in kleine Stückchen zu schnei-den, damit sie jeden Bissen mit diesem goldenen Teufelswerkzeug aufspießen konnte, das sie in der Hand hielt. Den Bissen führte sie dann zum Mund, die Lippen berührten Metall … oh, genug davon, es war über alle Maße ekel-erregend. Sämtliche Mitglieder des Großen Rats waren entsetzt. Kardinalbi-schof Petrus Damiani, ein rechtschaffener Mann Gottes, verlor keine Zeit, seine Herde vor dieser Verirrung zu warnen: »Gott in seiner Weisheit hat den Menschen mit natürlichen Gabeln ausgestattet – seinen Fingern. Daher lästert man Gott, wenn man beim Essen die Finger durch künstliche metallene Gabeln ersetzt.« Außerdem wies er darauf hin, daß das Gerät für den Verzehr von Spaghetti nutzlos sei. Kein Wunder, daß die byzantinische Prin-zessin, Maria Argyropoulina mit Namen, an Auszehrung starb. Der zukünftige Heilige Petrus Damiani wetterte gegen »die Frau des venezianischen Dogen, deren Leichnam, bei ihrer übertriebenen Empfindsamkeit, vollkommen verrottete«. Vanitas vanitatum! Wahrlich, die Gabel hatte im Westen einen schweren Start. Nach dieser frühen Verurteilung von der Kirchenkanzel herab verschwand sie zunächst tief im Küchenschrank der Geschichte und tauchte erst drei Jahrhunderte später wieder auf. Wenn nötig, wurde das Essen mit dem Messer zerschnitten und auch gleich aufgespießt. Erst im 16. Jahrhundert konnte die Gabel ihre kulinarische Präsenz in Italien bestätigen. Zu der Zeit war die italienische Oberschicht sehr auf Hygiene bedacht; es gehörte sich, daß ein Gast zu einem Bankett die eigene Gabel und den eigenen Löffel mitbrachte, die elegant in einer Schachtel namens cadena aufbewahrt wurden. Das übrige christliche Europa hatte für den Segen des Eßutensils keinen Sinn, bis Katharina von Medici 1533 Heinrich II. von Frankreich heiratete – Hochzeiten sind offenbar immer wieder ein willkommener Anlaß zum kulturellen Aus-tausch. Zu Katharinas Mitgift gehörten silberne Gabeln, die Benvenuto Celli-ni, der berühmte italienische Goldschmied, gefertigt hatte. Allerdings blieb man am französischen Hof weiterhin mißtrauisch gegenüber der gefährlichen Neuerung. Noch König Ludwig XIV. vertraute lieber auf ein Messer und die eigenen Finger.
Im Osten war die Gabel etwa seit dem 4. Jahrhundert am Hof von Byzanz in Gebrauch und seit dem 7. Jahrhundert bei wohlhabenden Kreisen in Westasien üblich. Selbst die Tataren waren im Umgang mit der Gabel versiert, wie der Brief eines Franziskanermönchs an Ludwig IX. von Frankreich zeigt.
Heute gilt die Gabel als wichtige kulturelle Errungenschaft, und Menschen, die weiterhin ihre Finger benutzen, werden bestaunt und im besten Falle als charmant kurios betrachtet. Doch wie um den längst vergangenen Bischof zu bestätigen, hat eine kürzlich erschienene Studie gezeigt, daß die Finger ein bestimmtes Enzym abgeben, das die Verdauung fördert. Aber natürlich würden wir nicht einmal im Traum daran denken, auf die Gabel zu verzich-ten, schließlich ist sie nicht nur ein wesentlicher Bestandteil unserer Eßge-wohnheiten, sondern auch Teil unserer Lebenswelt. Wie die Gabel so gibt es noch viele weitere kulturelle Importe – Zahnpasta und Zucker, Kaffeehäuser und Gärten, Teppiche und Parfums, Brunnen und Bibliotheken -, die aus anderen Ländern in den Westen kamen und jetzt als »ureuropäisch« gelten.
Gegenstände werden zwar nicht im gleichen Maße wie Ideen, Geschichten, Lieder und Bilder adaptiert, aber auf ähnliche Weise übernommen. Anfänglich begegnet man ihnen mit Argwohn und betrachtet sie als zweifelhafte Segnungen. Dann folgt die vorsichtige Akzeptanz. Und schließlich wird das einstmals Fremde begeistert vereinnahmt, bis die fremde Herkunft völlig in Vergessenheit gerät. Ein notwendiger und gesunder Prozeß, wäre da nicht der Umstand, daß man die Zinken der Gabel gern dazu benutzt, auf das andere einzustechen. In der Geschichtsschreibung wird der fremde Einfluß oft bewußt ausgespart. Aber wenn wir uns daran erinnern, woher etwas kommt, vergewissern wir uns der vielen Quellen der Kultur. Ein erhöhtes Bewußtsein für unsere Mischkultur erinnert uns daran, daß wir die kulturelle Provokation und Bereicherung durch fremde Quellen benötigen. Die Gabel steht nicht für eine Trennung, sondern für die kontinuierliche Erwartung des Neuen.
Die Entstehung Europas
english version
The emergence of Europe
1
The fork and other dubious blessings
Those damned Orientals! What dudes! So etepete and arrogant right down to the tips of their stoles. Who did this woman think she was? Only because Domenico Selvo, who would probably be elected the next Doge, had chosen her as his bride. Certainly, the courtly circles in Constantinople, where her father held a high post, were famous for their elegance and were very particular about etiquette. But did that mean she had to deny natural politeness and insist on her ridiculous fashions? She had actually had the cheek to refuse to eat with her fingers at the wedding banquet. Instead, she had instructed the eunuch who was milling around her (another perversion, what in God’s name would come next?) to cut her food into small pieces so that she could spear each bite with that golden devil’s tool she was holding. She then brought the morsel to her mouth, lips touching metal… oh, enough of that, it was disgusting beyond belief. All the members of the Grand Council were horrified. Cardinal Bishop Peter Damiani, a righteous man of God, wasted no time in warning his flock about this aberration: „God in his wisdom has endowed man with natural forks – his fingers. Therefore, one blasphemes God if one replaces his fingers with artificial metal forks when eating.“ He also pointed out that the device was useless for eating spaghetti. No wonder the Byzantine princess, Maria Argyropoulina by name, died of emaciation. The future Saint Peter Damiani railed against „the wife of the Venetian doge, whose corpse, with her exaggerated sensibility, rotted completely“. Vanitas vanitatum! Truly, the fork had a difficult start in the West. After this early condemnation from the church pulpit, it initially disappeared deep into the kitchen cupboard of history and only reappeared three centuries later. If necessary, food was cut up with a knife and speared straight away. It was not until the 16th century that the fork was able to confirm its culinary presence in Italy. At the time, the Italian upper classes were very concerned about hygiene; it was customary for a guest to bring their own fork and spoon to a banquet, which were elegantly stored in a box called a cadena. The rest of Christian Europe had no appreciation for the blessing of eating utensils until Catherine de Medici married Henry II of France in 1533 – weddings are obviously always a welcome occasion for cultural exchange. Catherine’s dowry included silver forks made by Benvenuto Celli-ni, the famous Italian goldsmith. However, the French court remained suspicious of this dangerous innovation. Even King Louis XIV preferred to rely on a knife and his own fingers.
In the East, the fork had been in use at the court of Byzantium since around the 4th century and had been common among wealthy circles in West Asia since the 7th century. Even the Tartars were adept at using the fork, as a letter from a Franciscan monk to Louis IX of France shows.
Today, the fork is considered an important cultural achievement, and people who continue to use their fingers are marvelled at and, at best, regarded as charmingly curious. But as if to confirm the long-gone bishop, a recent study has shown that fingers release a certain enzyme that aids digestion. But of course we wouldn’t even dream of giving up the fork, after all it is not only an essential part of our eating habits, but also part of our living environment. Like the fork, there are many other cultural imports – toothpaste and sugar, coffee houses and gardens, carpets and perfumes, fountains and libraries – that came to the West from other countries and are now considered „ureuropean“.
Although objects are not adapted to the same extent as ideas, stories, songs and images, they are adopted in a similar way. Initially, they are met with suspicion and regarded as dubious blessings. Then comes cautious acceptance. And finally, what was once foreign is enthusiastically appropriated until the foreign origin is completely forgotten. A necessary and healthy process, were it not for the fact that one likes to use the tines of the fork to stab the other. In historiography, foreign influence is often deliberately omitted. But when we remember where something comes from, we make sure of the many sources of culture. A heightened awareness of our mixed culture reminds us that we need the cultural provocation and enrichment of foreign sources. The fork does not stand for separation, but for the continuous expectation of the new.

